Israel: Der endlose Krieg im Gaza-Streifen


Der Krieg im Gazastreifen und in der Westbank wird immer mehr zu einer Bedrohung auch der Stabilität Europas und stellt die Geschlossenheit der Europäischen Union vor neue Herausforderungen.

Wir dürfen das entsetzliche Geschehen, das Morden und Sterben, nicht hinnehmen, sondern müssen uns deutlich für die Einhaltung des Kriegsvölkerrechts und der Menschenrechte auch von Seiten Israels einsetzen.


 

 

 

 

 

von Jürgen Chrobog,

deutscher Botschafter in den USA und Staatssekretär des Auswärtigen a.D.,

Präsident des Europäischen Senates-Politik der Wir Eigentümerunternehmer,

Partner Berlin Global Advisors

 


Das entsetzliche Verbrechen der Hamas vom 7. Oktober 2023 ist kein Freibrief für eine Kollektivbestrafung der Palästinenser. Die Europäische Union ist wie immer gespalten. 17 Mitgliedsstaaten der EU, vor allem unser wichtigster Partner Frankreich und andere Staaten wie GB, haben sich für eine Überprüfung des Assoziationsabkommens mit Israel ausgesprochen. Wie schon in der Ampelkoalition folgen wir auch dieses Mal wieder nicht der Mehrheit in der EU, sondern unseren Interessen. Für uns haben allerdings die Beziehungen zu Israel eine besondere Bedeutung, die auf Grund unserer geschichtlichen Sonderrolle unseren Handlungsspielraum einschränkt.

Daher ist diese Entscheidung auch nicht vergleichbar mit unserem oft zu Recht kritisierten Abstimmungsverhalten in der EU während der Ampelregierung. Im Hinblick auf den Krieg im Gazastreifen benötigen wir jedoch gerade hier eine gesamteuropäische Solidarität. Die Diskussion darüber, ob es sich bei Israels militärischem Vorgehen bereits um einen Genozid an den Palästinensern handelt, ist müßig und eher von akademischem Wert. Für die betroffenen Menschen macht das keinen Unterschied.

 

In der Region wird immer schärfer Kritik an unserer angeblich einseitigen Parteinahme für Israel geäußert. Man wirft uns vor, unsere historische Schuld gegenüber den Juden aus der Vergangenheit auf den Schultern der Palästinenser abzuladen. Unser Ansehen in der arabischen Welt hat sich dramatisch verschlechtert. Auf Grund unserer Geschichte besteht aber gerade für uns eine moralische Verantwortung für das Leiden von tausenden Kriegsopfern in Gaza, unter ihnen unzählige Kinder und Frauen, der wir uns nicht entziehen dürfen. Die entsetzlichen Bilder im Fernsehen, die uns allabendlich das Leiden der Opfer vor Augen führen, sind nicht mehr zu ertragen.

Die Kriegsführung der israelischen Regierung ist außer Kontrolle geraten. Ein völlig zerstörter Gazastreifen, tausende getötete und verletzte Frauen und Kinder, die verzweifelten Hilferufe der Vereinten Nationen sowie der „Ärzte ohne Grenzen“ und vieler anderer Hilfsorganisationen sollten uns aufrütteln und zum Handeln zwingen. Die Standarderklärung der israelischen Regierung, es handele sich um legitime Angriffe auf Hamas, ist nicht glaubhaft. Unser neuer Außenminister erklärt, er führe gute Gespräche mit seinem israelischen Amtskollegen. Diese Gesprächskanäle müssten aufrechterhalten bleiben. Wir müssen uns jedoch fragen, welches Ergebnis wir realistischerweise erwarten können.

 

Die Appelle von Minister Wadephul stoßen in Israel auf taube Ohren. Der Krieg wird mit täglich zunehmender Härte weitergeführt. Die medizinische Infrastruktur ist bereits weitgehend vernichtet. Alle Krankenhäuser sind zerstört. Auf Grund der dreimonatigen Einfuhrsperre von Medikamenten und Nahrungsmitteln sind die Überlebenschancen der Verletzten und Kranken sowie der Bevölkerung insgesamt dramatisch gesunken. Frauen und Kinder verhungern. Israel hat als Besatzungsmacht völkerrechtlich die Verpflichtung, die Zivilbevölkerung zu schützen. Es tut genau das Gegenteil. Es setzt Hunger und Durst als Mittel gegen die Zivilbevölkerung ein.

Das ist ein Kriegsverbrechen! Die israelische Regierung behauptet wider besseres Wissen, es gebe genug Nahrungsmittel für die Menschen. Dieser Zynismus ist nicht zu überbieten. Selbst die gerade erfolgten Erleichterungen reichen nicht aus, um das Elend zu beenden.

Die israelische Regierung hat den Vorschlag von Präsident Trump, alle Palästinenser in die arabischen Nachbarländer umzusiedeln und aus dem Gazastreifen ein Paradies für Reiche (eine Riviera) zu machen, mit Genugtuung zur Kenntnis genommen. Wahrscheinlich hat die Familie Trump bereits viele Trump Tower und zahlreiche Spielkasinos am Strand vor Augen.

 

Die Annahme, arabische Nachbarstaaten würden eines Tages zur Aufnahme von über zwei Millionen Palästinensern bereit sein, ist so absurd, dass es sich gar nicht lohnt, darüber nachzudenken.

Die Zerstörungen im Gazastreifen sind schlimmer als in Berlin 1945. Kaum ein Gebäude hat die Angriffe überstanden. Die Bodenoffensive auf dem Gazastreifen führt zu immer neuen Vertreibungen: von Nord nach Süd und zurück – immer hin und her. Ständig fordert das Militär die Menschen auf, die Region, in der sie sich gerade aufhalten, sofort zu verlassen mit der Drohung, dass israelische Bodentruppen einmarschieren werden. Wo sie sich auch immer aufhalten, der Krieg holt die Flüchtigen überall ein. Flüchtlingscamps werden beschossen. Viele Flüchtlingshelfer und medizinisches Personal wurden bereits getötet. Die wenigen verbleibenden einheimischen und internationalen Helferinnen und Helfer erbringen Übermenschliches – dabei selbst immer vom Tode bedroht.

 

Netanjahus Behauptung, der Militäreinsatz richte sich nur gegen die Hamas, wird durch die Fakten widerlegt. Die Bilder zeigen immer wieder, wie viele Gebäude nach einem Angriff in der Umgebung in Schutt und Asche gelegt wurden. Gezählt werden nur die angeblich getöteten Kämpfer der Hamas. Die Zahl der getöteten Zivilisten bleibt im Hintergrund. Der schreckliche Anschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 kann allein nicht mehr zur Rechtfertigung des militärischen Vorgehens ausreichen. Es besteht ein eklatantes Missverhältnis zwischen den Opferzahlen beider Seiten.

Netanjahu scheint den Krieg in die Länge ziehen zu wollen. Nach einem Ende muss er mit der Wiedereröffnung der gegen ihn laufenden Strafverfahren rechnen. Hinzu kommt auch noch die strafrechtliche Aufarbeitung des 7. Oktobers.

 

Es ist eine Illusion zu glauben, dass das von Netanjahu propagierte Kriegsziel, die Hamas mit militärischen Mitteln auszulöschen, erreichbar ist. Das ist schon in der Vergangenheit unmöglich gewesen. Die Zahl der Toten wird weiter steigen. Das Überleben der Geiseln wird immer unwahrscheinlicher. Die Geiselfrage hat aber offensichtlich im Kabinett Netanjahu keine Priorität mehr.

Die Zukunft der Region ist besorgniserregend. Die USA sind hier wie in der Ukraine als Vermittler ausgefallen. Sie vertreten in erster Linie Eigeninteressen. Einen Lösungsplan für Palästina gibt es nicht mehr, seit Netanjahu alles getan hat, eine Zweistaatenlösung zu verhindern. Durch seine Siedlungspolitik in der Westbank hat er Fakten geschaffen, die jede erneute Umsiedlung von Siedlern unmöglich macht. Jeder Versuch würde zu einem Bürgerkrieg in Israel führen. Die früher ansässigen palästinensischen Siedler wurden und werden gewaltsam vertrieben. Besiedlungen durch israelische Siedler setzen sich auch im nördlichen Gazastreifen fort.

 

Eine Lösung des Konflikts hätte eines amerikanischen Machtwortes bedurft. Diese Möglichkeit ist vorbei. Europa wäre nur in der Lage, wenn es einig darin wäre, wirklich Einfluss auf Israel auszuüben, was aber mit Netanjahu und seinem rechtsextremen Kabinett nicht möglich ist. Die Aufforderung des amerikanischen Präsidenten an Netanjahu lautete ‚finish the Job‘.

 

Bundeskanzler Merz hat noch vor seinem Regierungsantritt erklärt, er werde Netanjahu bald zu einem Deutschlandbesuch einladen. Er versicherte, dass dieser seine Festnahme nicht befürchten müsse. Dass Deutschland nach ungarischem Vorbild das Abkommen über den internationalen Strafgerichtshof verlässt, ist nicht vorstellbar. Den Haftbefehl gegen Netanyahu zu vollstrecken, ist unmöglich. Es hätte aber eine elegantere Lösung gegeben – ein Treffen im Ausland.

Ich erinnere mich noch an die Gründung eines Internationalen Strafgerichtshofs. Der damalige deutsche Außenminister Klaus Kinkel forderte bei der Konferenz zu Jugoslawien im August 1992 die Teilnehmer zur Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofes für Jugoslawien auf. Angesichts der Menschenrechtsverletzung fand dieser Vorschlag allgemeine Zustimmung. Diese Initiative leitete den Prozess einer internationalen Strafgerichtsbarkeit ein, der mit dem Abschluss der Römischen Verträge und der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs 2002 erfolgreich zu Ende ging. Deutschland darf nicht zulassen, dass die Staaten, die den IGH abgelehnt haben, sich heute durchsetzen. Wehret den Anfängen!

 

60 Jahre Diplomatische Beziehungen Deutschland – Israel stehen vor einer großen Belastungsprobe. Die von Frau Merkel zugesagte Garantie der Existenz und Sicherheit Israels als Teil deutscher Staatsraison kann sich auf die Dauer nicht von der Politik eines rechtsextremen israelischen Kabinetts abhängig machen.

Wir anerkennen die deutsche Verantwortung für den Staat Israel und seine Menschen. Diese findet aber eine Grenze, wenn die dortige Regierung sich nicht an ihre Verpflichtungen hält. Die Pflicht zur Einhaltung der Menschenrechte ist im Assoziierungsabkommen ausdrücklich festgelegt worden. Israel behauptet von sich, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein. Daraus muss es die notwendigen Konsequenzen ziehen. Bis dahin sollten wir alle Waffenlieferungen einstellen. Israel muss durch eine gemeinsame Politik der EU-Staaten an der geplanten dauerhaften Besetzung des Gazastreifens gehindert werden. Hält es dran fest, sind EU-Sanktionen unvermeidbar und müssen ausnahmsweise durchgesetzt werden. Hier steht die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union auf dem Spiel.